Wie die zwei in die Entschlüsselung der kryptischen Zeichen versunkenen Kinder betrachten wir das Schnittmuster, wir sehen Bücher ebenso wie Kohlenbriketts und jedesmal sehen wir Annedore Leber. Sie war tatsächlich sowohl Schneiderin als auch Kohlenhändlerin, aber vor allem war sie eine Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus. Ihre gleichgesinnten Mitstreiter*innen begegnen uns in den Collagen, die wenigsten überlebten die Dikatur. Annedore, als Ehefrau getarnt, wurde von den Nazis nicht ernst genommen, sie kam durch und deshalb machte sie es sich zur Aufgabe, die Ziele, für die sie, ihr Mann Julius Leber und alle Gefährten und Gefährtinnen gekämpft hatten, in der neuen deutschen Demokratie zu realisieren.
Wer war Annedore Leber? Die Tochter eines angesehenen Lübecker Oberstudiendirektors war liebevoll und behütet aufgewachsen. Es zeigte sich, dass sie schon früh wußte, was sie wollte und dass sie in der Lage war, ihre Pläne umzusetzen. Nicht nur wurde die wohlerzogene höhere Tochter (zunächst) eine „einfache“ Schneiderin, sondern sie heiratete auch noch einen linken Sozialdemokraten, unklar, was den bürgerlichen Eltern weniger gefiel, aber sie liessen sie gewähren. Annedore war überzeugt von den Prinzipien der Sozialdemokratie, für die sie sich begeistert einzusetzte, so dass der Übergang in den Widerstand nach 1933 gleitend war. Das Ehepaar Leber war nicht bereit aufzugeben, obwohl vor allem Julius Leber vom ersten Tage an roher, brutaler Gewalt und Verfolgung ausgesetzt war. Als Chefredakteur des Lübecker Volksboten war er der lokale sozialdemokratische Volkstribun, der sich auch als engagierter Reichstagsabgeordneter überregional einen Namen gemacht und die Nazis seit Jahren schon bekämpft hatte. Deshalb war er von ihnen längst als ein zu vernichtender Feind ausgemacht worden. Er wurde erwartungsgemäß nur wenige Woche nach der heroisierend „Machtergreifung“ genannten Machtübernahme Hitlers schwer mißhandelt, verhaftet und verbrachte die nächste vier Jahre in verschiedenen Gefängnissen und Konzentrationslagern.
Annedore bemühte sich unermüdlich um seine Freilassung, die 1937 tatsächlich erfolgte. Die gemeinsamen Widerstandsaktivitäten wurden sofort wiederaufgenommen und intensiviert. Von außen betrachtet war sie die Ehefrau, die zunächst einen eigenen Modesalon mit zehn Angstellten führte, später die Schnittmusterabteilung des Deutschen Verlags in Berlin leitete, wo die Familie – Vater, Mutter mit zwei Kindern und Schwägerin und Mutter, die sich um die Kinder kümmerten –wohnte. Der Feind in den Augen der Nazis war der Mann, Ehefrauen konnten in deren Weltbild gar keinen Widerstand leisten. Das eröffnete Annedore Handlungsspielräume, die sie mutig zu nutzen verstand. In der Folge des gescheiterten Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 wurde auch Julius Leber hingerichtet.
Seine Witwe war tief erschüttert und todtraurig, aber es gelang ihr, sich zu fassen und weiterzuarbeiten, weil sie es auf keinen Fall hinnehmen wollte, das der Tod ihres Mannes umsonst gewesen sein sollte. Sie übernahm die Kohlenhandlung, mit der der Journalist und Politiker, im NS seiner eigentlichen Arbeitsmöglichkeit beraubt, sein Geld verdient hatte. Dieser Ort, der während der Diktatur ein Epizentrum des Widerstands gewesen war, wird nach dem Krieg die Zentrale ihrer vielfältigen Aktivitäten: Als Journalistin, Herausgeberin, Autorin, Verlegerin und Politikerin wirbt sie für die Demokratie. Sie brennt für diese Aufgabe so wie die schwarze Kohle, die wir im Dialog Dear Annedore sehen, und sie verglüht. Sie stirbt völlig erschöpft 1968 mit nur 64 Jahren. Annedore Leber beeindruckt uns noch heute, weil sie uns erkennbar als Persönlichkeit entgegentritt, die Überzeugungen hatte und bereit war, sich für diese einzusetzen. Sie glaubte an den Einsatz des und der Einzelnen für die Gemeinschaft und hat uns diesen Grundsatz authentisch vorgelebt.

© Frauke Geyken, April 2022